Architekten haben nur selten die Möglichkeit, unmittelbar mit den physischen Objekten ihrer Entwürfe umzugehen. Während andere – Gestalter, Künstler und Designer – direkt mit Materialien arbeiten, tun Architekten das abstrakt. Sie stellen sie dar und entscheiden über die Art und Weise ihrer Verwendung, aber sie verarbeiten und verbauen sie nicht selbst. Doch alle wahrnehmbaren Qualitäten, welche Architekten in ihren Entwürfen zu vermitteln versuchen, hängen letztlich von deren Manifestation in gebauter Form ab. Der Entwurf kann diese Materialeigenschaften unterstreichen, er setzt ihnen aber auch Grenzen. Wie sehr Architekten auch versuchen, in ihren Entwürfen zu abstrahieren und sich von konkreten Fragen nach Materialien zu distanzieren, sind es letztlich doch diese, durch die sich die architektonische Idee darstellt.
Materialverständnis ist Teil des Designs. Die Wahl des Materials hat einen immensen Einfluss auf die Umsetzbarkeit und Funktionalität eines Entwurfs. Es sind die Eigenschaften eines Materials, die entscheiden, für welchen Einsatzbereich es sich letztlich eignet. Baustoffe werden nicht umsonst aus den unterschiedlichsten Materialien hergestellt.
Ein sensibles Materialverständnis vermittelt deshalb immer mehr als nur die Umsetzung von Entwurfsideen durch die Mittel des Bauenden. Es ermöglicht sowohl neue Interpretationen der Verhältnisse der Teile zum Ganzen als auch das Herstellen neuer Gesamtbeziehungen, organisatorischer Zusammenhänge und phänomenologischer Effekte. Ein sensibler Umgang mit Materialien in verschiedenen Massstäben, vom Architekturdetail bis zum Städtebau, vermag deshalb auch immer ein zeitgemässes Verständnis unserer gebauten Umwelt in Bezug auf ihre Komponenten und deren Verbindung zu vermitteln.
Design versus Materialwahl?
Im Diskurs der Architektur waren Fragen nach der Rolle von Materialien oftmals mit solchen nach dem Verhältnis der Gesamtform zur Tektonik verbunden. Soll die Materialverwendung einer übergeordneten formalen Idee unterworfen werden oder einer den Materialien innewohnenden „Natur“ folgen? Besonders in Zeiten grosser technologischer Fortschritte und rasanter Materialentwicklungen wird diese Rolle hinterfragt. In einer solchen Zeit befinden wir uns heute.
Doch anstatt sich auf unfruchtbare Auseinandersetzungen einzulassen und sich auf eines der Lager festzulegen, argumentiert dieser Beitrag für einen alternativen Ansatz des Verhältnisses von Architektur und Material. Durch die unmittelbare Erfahrung und den direkten Blick auf Materialien und ihre Eigenschaften können Entwerfer neue Einsichten in Bezug auf deren formalen, funktionalen, konzeptionellen und expressiven Potenziale gewinnen. Die direkte Auseinandersetzung mit Materialien weist den Weg zu ihrer gezielten Verwendung, im besten Fall auch zu neuartigen Funktionen und Gestaltungsmöglichkeiten. Der Leitgedanke ist die jeweils einzigartige Kombination aus dem Potenzial des Materials und der Intention des Entwurfs. Damit kann der architektonische Diskurs über die veraltete Opposition zwischen Form und tektonischem Aufbau ebenso hinausgeführt werden wie über modische Trends, welche auf der jeweils letzten Materialentwicklung basieren. Beobachtung, Spekulation und Experiment als Vorgehensweise können Entwerfern, Planern oder Architekten ihre Intentionen im Umgang mit Materialien bewusst machen und auf diese Weise das Design ihrer Entwürfe befördern. Eine solche Herangehensweise vermag die Grenzen zu erweitern, wie eine Idee gebaut werden kann, und sie kann der Auseinandersetzung mit Materialfragen eine ganz neue Wendung geben. Eine Unterscheidung in Theorie und Praxis der Materialien ist damit nicht mehr sinnvoll, wenn sie es denn je war.
Die Untersuchung der Eigenschaften eines Materials führt zu Fragen nach der operativen Logik des Umgangs mit ihm. Walzen, ziehen oder pressen beispielsweise, angewandt auf ein Material wie Stahl, betonen seine Formbarkeit und stellen gleichzeitig einen fundamentalen Materialprozess dar. Sowohl Material als auch Prozess sind in diesem Falle massstabslos und können daher vom Detail über umfassende Profilsysteme bis zum ganzen Gebäude und darüber hinaus angewandt und in individualisiertes Design umgesetzt werden.
Materialexperimente
Damit Materialstudien über das individuelle Experimentieren hinaus eine grössere Bedeutung in der Architektur gewinnen können, ist ein kollektiver Ansatz notwendig. Hochschulen sollten dabei ihre Rolle als Vorreiter und Verbreiter von Materialstudien ernst nehmen und Forschungsvorhaben ausreichend fördern. Materialstudien waren seit den Tagen der frühen Moderne immer ein fester Bestandteil der Architektenausbildung. Johannes Itten beispielsweise etablierte als Pädagoge am Bauhaus einen verpflichtenden Grundkurs, in dem alle Studenten mit Material experimentieren mussten und dessen Eigenschaften zu demonstrieren hatten. Dieser Ansatz prägte damals den Umgang einer ganzen Generation von Architekten mit Material.
Es gibt zurzeit viele Anstrengungen, Materialstudien wieder in die Architekturausbildung zu integrieren. So besitzt beispielsweise die Graduate School of Design der Harvard University eine einzigartige Materialsammlung. Die sogenannte „Materials Collection“ ist nicht nur ein Katalog von Produkten, sondern eine aktive und kontinuierlich aktualisierte Sammlung von Material und Materialanwendungen. Sie dokumentiert darüber hinaus Materialexperimente und Forschungsprojekte von Studenten und Lehrenden der Hochschule. Auf diese Weise können zukünftige Studentengenerationen auf die vorangegangenen Experimente zurückgreifen.
Die Datenbank der Sammlung ist so organisiert, dass sie ein Verständnis von Material fördert, welches weit über die konventionelle Einteilung in Materialfamilien hinausgeht. So wird Material beispielsweise im Kontext seiner Eigenschaften, nicht nur in Bezug auf vorgegebene Anwendungen katalogisiert. Das ermöglicht Benutzern der Datenbank zum Beispiel, ein Material für eine Gebäudefassade zu entdecken, welches normalerweise dazu dient, die Reflexion von Computerbildschirmen zu verringern. Auch andere Institutionen ausserhalb der Universitäten haben den Bedarf nach umfassenden Materialkatalogen für Entwerfer erkannt. Zu diesen gehören die in New York gegründete Material ConneXion (eine Quelle neuer und innovativer Materialien für Architekten, Künstler und Designer), die in Paris ansässige materiO‘ und die schweizerische Datenbank „Material-Archiv“, um nur einige wenige zu nennen.
Neue Materialsammlungen für neues Design
Die gestalterischen Ambitionen von heute basieren auf dem Wunsch nach mehr räumlicher Komplexität, einem subtileren Erfahren von Architektur und zunehmend massgeschneiderten Designlösungen. Die Suche nach Materialinnovationen ist dabei nicht nur die nach der nächsten modischen Fassade, sondern die nach dringend benötigten Materialien, welche die gestalterischen Ambitionen des 21. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen können. Dabei überrascht es wenig, dass die Lösungen, die beispielsweise vor 50 Jahren entwickelt wurden, unserer heutigen Zeit nicht mehr genügen. Die Materialpalette, welche Entwerfern heute zur Verfügung steht, ist auch aufgrund überholter Klassifizierungssysteme und des Fehlens einer integrierten Forschung sehr limitiert. Die hier kurz umrissene direkte Auseinandersetzung von Architekten mit Material durch Beobachtung, Spekulation und Experiment mithilfe neuer Materialsammlungen und -datenbanken bietet eine vielversprechende Alternative, um das Design von morgen zu ermöglichen und zu bestimmen.
INFO
Dr. Thomas Schröpfer ist Professor für Architektur und Nachhaltiges Design an der Singapore University of Technology and Design. Seine Buchpublikationen wurden in mehrere Sprachen übersetzt und umfassen: Dense + Green Cities: Architecture as Urban Ecosystem (2020); Dense + Green: Innovative Building Types for Sustainable Urban Architecture (2016); Ecological Urban Architecture (2012) und Material Design: Informing Architecture by Materiality (2011). Er erhielt zahlreiche renommierte nationale und internationale Preise und Auszeichnungen, wie The European Centre for Architecture Art Design and Urban Studies Award, The German Design Award und The President’s Design Award, Singapurs höchste Ehrung für Designer und Design aller Disziplinen.