Tragfähigkeit transparenter Flächen

Baukunst?
Mit Sicherheit!

Bei der Planung eines Gebäudes ist neben dem Primärtragwerk auch die Tragfähigkeit der Gebäudehülle nachzuweisen. Anhand des „Futuriums“ in Berlin – einem besonderen Neubauprojekt – soll der Umgang mit konstruktiven wie auch gestalterischen Anforderungen erläutert werden.

Ingenieurbaukunst – manch einer mag bei diesem Begriff an historische Burgen, Schlösser oder Kathedralen denken. Andere verbinden damit herausragende Ikonen zeitgenössischer Architektur, seien es Brücken, Bahnhöfe, Museen oder vergleichbare Bauwerke. Eine Gemeinsamkeit dieser Beispiele liegt wohl darin, dass sie sich von anderen Kunstformen in zwei wesentlichen Merkmalen unterscheiden. Zum einen werden Bauobjekte primär geschaffen, um ein bestimmtes Funktionsspektrum zu erfüllen, zum anderen  unterscheiden sie sich deutlich von anderen Kunstwerken in ihrer Dimension.

Die zunehmende Komplexität der funktionellen Anforderungen und die teils beachtliche Dimension eines Bauvorhabens fordern den Planer dahingehend heraus, sich neben gestalterischen Aspekten mit Themen wie Materialisierung, Tragwerksplanung und Fertigungstechnik zu befassen. Vor diesem Hintergrund kann Ingenieurbaukunst als eine Kunstform angesehen werden, in der Architekten und Bauingenieure an der Synthese von Konstruktion und Form zusammenwirken.
Im Zuge der Industrialisierung hat die Verfahrenstechnik in der Stahlerzeugung einen deutlichen Entwicklungsschritt vollzogen. Die auf neuen Verfahren basierenden Werkstoffe (Schmiedeeisen, später Schmiedestahl) waren in grösseren Mengen und höherer Qualität verfügbar und eröffneten der Ingenieurbaukunst somit neue Möglichkeiten. Als duktiler und äusserst widerstandsfähiger Werkstoff wurde Stahl fortan bevorzugt in Bauwerken mit filigranen Strukturen und hohen Spannweiten eingesetzt – daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ein frühes Beispiel, welches die Vorzüge des «neuen» Werkstoffs auf beeindruckende Weise darlegen konnte, war die Galerie des Machines in Paris (1889), ein Gemeinschaftswerk des Architekten Charles Louis Ferdinand Dutert und des Ingenieurs Victor Contamin. Die gesamte Gebäudehülle, bis dahin üblicherweise in Massivbauweise mit sparsamen Öffnungen für Lichteinfall und Lüftung erstellt, konnte hier in Stahlskelett-Bauweise leicht und transparent realisiert werden. Für damalige Verhältnisse ein wahrhaft futuristisches Erscheinungsbild.

Nicht nur hervorragendes Tragwerk

Die zunehmende Akzeptanz der Skelettbauweise im Hochbau führte unweigerlich auch zur konstruktiven Trennung zwischen Haupttragwerk (Primärstruktur) und Gebäudehülle (Sekundärstruktur). Die Ausfachung des Stahltragwerks mit konventionellen Wandelementen wurde im Zuge der konsequenten Entwicklung neuer Materialien und Fertigungstechnologien nach und nach ersetzt durch eine industriell gefertigte, nicht-tragende Aussenhaut, die vor das tragende Skelett gehängt wird und das Gebäude wie ein Vorhang umschliesst.

Betrachtet man frühe Vorhangfassaden der 1950eroder 1960er-Jahre, finden sich eindrucksvolle Beispiele für Stahl-Glas-Konstruktionen hoch filigraner Ausprägung. Den Planern der damaligen Zeit war durchaus bewusst, dass der Bautyp der Vorhangfassade neben zahlreichen Vorzügen auch eine Reihe neuer Herausforderungen mit sich bringt. Das komplexe Zusammenspiel von statischen, bauphysikalischen, konstruktiven und gestalterischen Anforderungen konnte mit den damals zur Verfügung stehenden Materialien, Bautechnologien und Nachweisverfahren nicht vollumfänglich im Planungsprozess gelöst werden.

So brachte die hierarchische Aufteilung von Haupttragwerk und Gebäudehülle die Herausforderung mit sich, die konstruktive Verbindung der beiden Strukturelemente zu gewährleisten, ohne dabei die durchgehende Wärmedämmung der Aussenhaut zu durchdringen. Thermisch getrennte Profile und Isoliergläser waren zu der Zeit noch nicht auf dem Markt verfügbar. Erst mit der Ölkrise in den 1970er-Jahren und den seither stetig steigenden energetischen Anforderungen wurden Materialien und Nachweisverfahren entwickelt, um diesen Fragestellungen zu begegnen.
Eines der ersten thermisch getrennten Fassadensysteme ist seit dieser Zeit auf dem Markt, wurde seither stetig weiterentwickelt und hat sich an zahlreichen herausragenden Referenzobjekten bewährt – „Jansen VISS“. Das auf schlanken Stahlprofilen basierte System bietet nicht nur ein hervorragendes Tragwerk für grosse Verglasungen, sondern kann mit besten Wärmedurchgangskoeffizienten dazu beitragen, energetische optimierte Gebäudehüllen zu realisieren.
Um das transparente Erscheinungsbild einer verglasten Fassade zu erhöhen, sollten die gewählten Rahmenelemente neben schlanken Ansichtsbreiten zudem eine geringe Bautiefe aufweisen. Der Durchblick durch die Fassade wie auch der Lichteinfall werden massgeblich durch den Abstand und die Bautiefe der Pfostenprofile bestimmt. Je nach Blickrichtung tritt die Bautiefe der Rahmenelemente mehr oder weniger in Erscheinung und trägt zur wahrgenommenen Profilbreite auf. Hier können die hervorragenden statischen Eigenschaften des Werkstoffs Stahl wie kau ein anderer Baustoff dazu beitragen, die Profiltiefe zu reduzieren und die Transparenz der verglasten Gebäudehülle zu betonen. 
Im Hinblick auf die Statik der Fassade gibt es zahlreiche Ansätze, um die Bautiefe eines Pfostenprofils zu reduzieren. Eine Möglichkeit bietet die einseitige Einspannung des Profils anstelle der üblicherweise gelenkigen Lagerung – sofern die statisch-konstruktiven Randbedingungen der Einbausituation dies zulassen. Mit dieser Massnahme wird das rechnerisch erforderliche Trägheitsmoment des Profils unter Querbelastung (Windlast) deutlich reduziert. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das erforderliche Widerstandsmoment unverändert bleibt. Die Massnahme eignet sich daher insbesondere für Bausituationen, in denen der statische Nachweis massgeblich von der zulässigen Deformation abhängt (Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit).

Aufgrund der Schweissbarkeit des Werkstoffs Stahl kann die Einspannung konstruktiv elegant umgesetzt werden. Der Stahlpfosten wird auf einer Konsolenplatte verschweisst, die am Rohbau mittels Bolzen verankert wird. Die Schweissverbindung kann je nach statischen Erfordernissen mit zusätzlichen Rippen verstärkt werden.

Eine weitere Möglichkeit, die Bautiefe zu reduzieren, ist die Ausbildung eines Mehrfeldträgers. Dabei kann sich ein Pfostenprofil über mehrere Etagen erstrecken und wird üblicherweise an den Geschossdecken mittels Gleitlager verankert. Hieraus ergeben sich konstruktive wie bauphysikalische Fragestellungen, beispielsweise hinsichtlich Deformation der Geschossdecken oder Schallübertrag zwischen unterschiedlichen Bauabschnitten, welche in der Planung zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich ist dieser statische Ansatz dann denkbar, wenn in einem mehrgeschossigen Raum (z.B. einem Atrium) vor den Stahlbetonstützen des Primärtragwerks eine horizontale, statische Ertüchtigung vorgesehen ist, welche als Zwischenauflager genutzt werden kann. 
2.3 x 5
Meter grosse Gläser
33 x 12
Meter hohe Glasfassade

Optimierte Lichtdurchflutung 

Die gestalterischen Möglichkeiten mit dem Fassadensystem Jansen VISS sollen nachfolgend anhand der Fassadenkonstruktion des Berliner Futuriums erläutert werden.

Geplant wurde ein futuristisches Gebäude, welches Ausstellungen und Veranstaltungen rund um das Thema Zukunftsgestaltung beherbergen soll. Hierbei wird die Digitalisierung zweifelsohne ein zentraler Aspekt sein und so war den Architekten klar, dass dieses Thema die wechselnden Ausstellungen dominieren wird. Vor diesem Hintergrund entwickelten sie nicht nur die silbrig schimmernden Fassaden aus speziellen Glaskacheln, sondern – als deutlich wahrnehmbaren Gegensatz zu dieser kleinteiligen Struktur – zwei grosse Stahl-Glas-Fassaden, die sogenannten Screens. Auf diesen „Bildschirmen“ spiegelt sich die Umgebung wider und der Betrachter erhält je nach Standpunkt unterschiedliche Ansichten.

Die erste Etage des Bauwerks bildet einen einzigen, zusammenhängenden Raum. Die Screens sorgen für die Tageslicht-Beleuchtung und bieten dem Besucher den ungehinderten Blick auf das Regierungsviertel und das bunte Treiben in der Stadt. Um beides, sowohl die Lichtausbeute als auch den Ausblick zu optimieren, war es ein klares Planungsziel, die Pfosten-Riegelkonstruktion der bis zu 33 Meter breiten bis zu 12 Meter hohen Glasfassaden zu minimieren. Neben den Einwirkungen infolge Windlast und Eigengewicht der Dreifach-Isolierverglasung mit bis zu 2,3 x 5 Meter grossen Gläsern galt es, auch die Absturzsicherheit höchster Klasse für eine Menschenansammlung nachzuweisen.

Die Gebrauchstauglichkeit der geklebten Glasfassade hinsichtlich der Windlasten und der Absturzsicherung musste für den Fall nachgewiesen werden, dass die Klebung versagen könnte. Gleichzeitig durfte von aussen keine mechanische Sicherung der Glasscheiben sichtbar sein, die die visuelle Erscheinung der Screens beeinträchtigt hätte. Die Anforderungen an die Screen-Fassaden waren also:

•  Structural-Glazing-Fassade
•  Dreifach-Isolierverglasung
•  hochwertiges Sonnenschutzglas
•  enormes Glasgewicht (bis 870 kg)
•  minimale Profilgeometrien
•  Absturzsicherheit
All diese Anforderungen konnten mit dem Fassadensystem VISS SG erfüllt werden. Gegenüber einer konventionellen Pfosten-Riegelkonstruktion werden die Lasteinwirkungen in diesem Anwendungsfall auf zwei Wegen abgeleitet. Die horizontale Windlast wird über durchlaufende Riegelprofile an dahinter liegende Stahlschwerter abgetragen. Die Pfostenprofile sind zwischen die durchlaufenden Riegelprofile gesteckt und kraftschlüssig verbunden, sodass sie die Eigenlast der Fassade an einen Fachwerkträger im Dachbereich abtragen können.
Der Ausstellungsraum in der ersten Etage ist auch deshalb frei von Stützen, weil die weit auskragende Geschossdecke im Bereich der transparenten Screens mithilfe von Stahlschwertern von der Dachkonstruktion abgehängt ist. Diese Stahlschwerter dienen dem durchlaufenden Riegelprofil als Zwischenauflager – ein Beispiel dafür, wie der Profilquerschnitt durch Ausbildung eines Mehrfeldträgers optimiert werden kann.

Die nachfolgenden Skizzen stellen dieses Prinzip anhand der Südfassade dar. Durch diesen Lösungsansatz ergab sich eine Profilgeometrie von nur 60 x 150 Millimeter, in jeder zweiten Achse sind Stahlschwerter mit einem Querschnitt von 20 x 400 Millimeter angeordnet.
Die derart optimierten Profilquerschnitte sorgen für einen grossen Lichteinfall und einen möglichst ungehinderten Ausblick. Die Anforderung der Absturzsicherheit wird durch den Glasaufbau, das Fassadentragwerk sowie die Verankerung zwischen Glas und Rahmenelementen gewährleistet.

Die Aufgabe der Verankerung übernimmt bei der Fassadenkonstruktion „VISS SG“  ein Glashalter aus Edelstahl, der in eine spezielle Vertiefung des Scheibenverbunds eingreift. In diesem konkreten Anwendungsfall wurden spezielle Glashalter entwickelt, welche ideal auf die statisch-konstruktiven Anforderungen dieser aussergewöhnlichen Fassadenstruktur abgestimmt sind. Ein weiteres Beispiel für die gelungene Synthese von Konstruktion und Form.
Die ästhetische wie auch konstruktive Gestaltung der Screens kann angesichts der beschriebenen Anforderungen durchaus als Ingenieurbaukunst angesehen werden. Nicht zuletzt ist es aber auch eine Kunst, trotz aller Bautoleranzen, in höchster Perfektion eine Gebäudeecke auszubilden, an der vier Flächen zusammentreffen – wie es beim Futurium gleich vier Mal der Fall ist. (ST)